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"Der Satz 'Das Sein, bestimmt das Bewusstsein' gilt weiter"
Lutz Görner im Interview
Von Tanja Krienen
Lutz Görner - 1945 in Thüringen geboren, im Rheinland aufgewachsen, hat in Köln u. a. Theaterwissenschaft, Germanistik und Philosophie studiert, die Schauspielschule besucht , ist hier auch im Theater "Der Keller" aufgetreten - gilt vor allem durch seine Auftritte in 3sat als führender Rezitator deutscher Sprache. Begonnen hat er diese Karriere mit Heinrich Heines "Harzreise", die er im Alter von 29 Jahren zufällig in die Hand bekam. In Köln trat er von 1992 bis 1999 in seinem eigenen "Reziteater" auf, bis er 1999 nach Weimar umzog. Ab 1. März können die Kölner ihn life im Brunosaal erleben. Die Redaktion.
Tanja Krienen: "Lyrik für alle" heißt Ihre bekannte Sendung, die
wöchentlich auf 3sat zu sehen ist. Ist es wirklich möglich "Lyrik für
alle" anzubieten?
Lutz Görner: Tja, wenn ich genau darüber nachdenke: wahrscheinlich nicht
wirklich zu 100 Prozent. Aber es besteht mit dieser Sendung eine gute
Chance, eine Menge der vorhandenen Lyrik aufzuarbeiten und möglichst
viele Leute zu erreichen.
Aber die Parole ist richtig?
Ja, sie geht auf die Losung von Hilmar Hoffmann "Kultur für alle"
zurück.
In Ihrer Sendung interpretieren, bzw. rezitieren Sie aktuell Gedichte
von Friedrich Hebbel und Conrad Ferdinand Meyer. Ihr Repertoire
allerdings reicht von Johann Wolfgang von Goethe über Novalis und Heine
bis hin zu Tucholsky oder Baudelaire. Befürchten Sie nicht manchmal,
dies könne Ihnen als Beliebigkeit ausgelegt werden?
Die Sendung soll ja eine Geschichte der Lyrik vom Barock bis zur
heutigen Zeit dokumentieren. Es beginnt mit dem 16. Jahrhundert und
endet mit aktuellen Lyrikern. Sie beschränkt sich auch nicht auf
deutsche Dichter, sondern umfasst den ganzen abendländischen
Kulturkreis. Herausgelassen haben wir die asiatische und afrikanische
Lyrik, nicht zuletzt, weil den Zuhörern dabei zu viel erklärt werden
müsste. Es wird ja viel auf die Amerikaner geschimpft, weil da einige
Hitler für den König von Deutschland halten, aber was wissen die
Menschen hierzulande von Afrika?
Gibt es für Sie "unzitierbare" Lyriker oder verzichtbare Richtungen der
Poesie?
Es gibt Texte, die zu verrätselt sind.
Zum Beispiel Dada?
Dadas Witz ist erkennbar, und das ist wichtig: die Texte müssen
unmittelbar verständlich sein. Ich dachte mehr an T.S. Eliot zum
Beispiel. Aber ich lese sogar Lyrik, die zur Nazizeit entstand.
Da denke ich an Benn, obwohl?
Benn war lediglich elitär, er hat sich schnell wieder von den Nazis
abgewandt, als er merkte, wofür er vereinnahmt wurde.
Sie haben einmal Heinrich Heine mit den Worten zitiert: "Für die Völker
ist nichts wichtiger, als sich zu kennen. Irrtümer können hier die
blutigsten Folgen haben". Wie interpretieren Sie diesen Satz? Billigen
Sie der Lyrik eine völkerverständigende Kraft zu?
Das Kennenlernen der Lyrik anderer Völker halte ich schon für wichtig.
Dann weiß man auch, wo man selber steht. Die Deutschen waren nur
wirklich Avantgarde zur Zeit der Romantik, die Franzosen aber haben
später durch die Erfindung des Symbolismus für neue und entscheidende
Impulse gesorgt. Die eigene Leistung relativiert sich also, wenn wir uns
mit der Kultur anderer Völker beschäftigen.
Nimmt der Staat seine Aufgaben zum Erhalt des "Kulturgutes Sprache"
richtig wahr; und welche Rolle spielen dabei die Medien?
In Deutschland haben wir es schon ganz gut. Es gibt eine Reihe
Programme, in denen die Kultur eine große Rolle spielt. Prinzipiell
funktionieren die Medien. So eine Sendung wie ich sie mache, gibt es
sonst nirgendwo auf der Welt. Und es ist doch ein Erfolg, wenn die Leute
am Sonntag um 9.05 Uhr einschalten, um sich eine Lyriksendung anzusehen.
Und dabei haben sich die Zuschauerzahlen verachtfacht - wir liegen
derzeit bei 260 000 Zuschauern pro Sendung, ganz erstaunlich, wenn man
sich die sonstigen Quoten von 3sat ansieht.
Gut, aber was wir sonst alles sehen müssen?
Ach ja, schon Goethe hat sich über die Konsumenten von
Dreigroschenheften aufgeregt. Es gab immer Leute, die hatten
ausschließlich starke Arme, und solche, die mehr den Geist benutzen.
Begonnen haben Sie einst mit Heinrich Heine- und Kurt
Tucholsky-Rezitationen. Heute überwiegen - so hat man den Eindruck -
eher die klassischen Stoffe. Ist das dem "Nachholbedarf" geschuldet oder
kann man auch von einer Verschiebung des politischen Koordinatenkreuzes
des Lutz Görner sprechen?
Nee, das kann man so nicht sagen. Ich bin nur älter geworden, vielleicht
nicht mehr so eckig und kantig - manches schleift sich ab. Auch bin ich
skeptischer gegenüber den Ideologien geworden und habe viel dazu lernen
müssen. Der Satz "Das Sein, bestimmt das Bewusstsein" gilt weiter, aber
umgekehrt funktioniert das nicht. Der "neue Mensch" ist noch nicht - und
niemandem - gelungen.
Bleiben wir noch kurz bei Heine und blicken in das kultur-politische
Rheinland. Da sollte ja unlängst Peter Handke den Düsseldorfer
Heine-Preis erhalten. Dagegen gab es Proteste, Handke lehnte den
Düsseldorfer Preis ab, bevor der ihm vom Stadtrat wieder aberkannt
werden konnte. Nun wurde ein alternativer "Berliner Heine-Preis"
ausgerufen, den Handke jetzt annahm, um das Preisgeld von mehr als
50.000 Euro demnächst an Kriegsopfer im Kosovo weiter zu geben. Können
Sie die Vorgänge nachvollziehen?
Wenn man ihm den Preis zuerkannt hat, dann hat man ihn zuerkannt. So.
Die dann folgende Aberkennung kann ich nicht nachvollziehen. Aber was
mir ein serbischer Musiker-Kollege über den Konflikt in Jugoslawien
erzählte, konnte ich dagegen gut nachvollziehen - das war glaubhaft. Die
Frage, ob Handke die Düsseldorfer überhaupt nötig hatte, ist damit ja
beantwortet?.
Kommen wir zum Schluss und somit zu Ihrem neuen Programm, mit dem sie
vom 1. März an fast täglich in Köln auf der Bühne stehen werden. Es ist
ein Programm mit Robert Gernhardt -Texten. Warum Gernhardt und warum
jetzt?
Ich habe den Gernhardt vor 16 Jahren zum ersten Male getroffen und schon
damals ein Programm gemacht. Leider wurde davon wenig Notiz genommen,
weil Robert Gernhardt halt als "irgendein Satiriker" galt, der dazu noch
Gags für Otto Waalkes lieferte. Doch als Gernhardt jetzt starb, habe ich
mir gedacht, dieses Programm sollte - modifiziert - unbedingt wieder
gespielt werden. Gernhardt gibt dem Vortragenden Gelegenheit in
verschiedene Rollen zu schlüpfen. Es macht einfach Spaß ihn zu spielen.
TK: Ich bedanke mich sehr für das Interview und wünsche weiterhin viel
Erfolg!
Foto: privat
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